Die Haseldörfer im langen 19. Jahrhundert

In der Zeit der bürgerlichen Aufklärung kam es auch in den Haseldörfern zur allmählichen Auflösung der mittelalterlichen Strukturen und Methoden. Um 1740 wurde der Kartoffel- und Kleeanbau eingeführt, deren Durchsetzung aber noch die Dreifelderwirtschaft im Wege stand. Der 1839 vom Pfarrer und weit bekannten Publizisten Dr. Wohlfarth (Bild 1, unten) gegründete Leseverein, der den Zweck verfolgte, „den herrschenden Aberglaube zu bekämpfen, den Landmann zum Nachdenken anzuregen und den Willen zur Verbesserung in ihm zu wecken“, fand in Kirchhasel regen Zuspruch und war in der gesamten Region beispielgebend. 1848 wurde der Leseverein verboten, weil anstatt landwirtschaftlicher Bildungsthemen zunehmend politische Diskussionen geführt wurden. Infolge der 1848er Revolution, die auch in Kirchhasel ihren Widerhall fand, kam es zur endgültigen Auflösung der Feudalgesellschaft. Bevor der landwirtschaftliche Aufschwung begann, wanderten 1851-1867 etwa 20 Kirchhaseler nach Amerika aus, vielleicht auch einige Unterhaseler, die sich wegen der ständigen Saalehochwasser und verheerenden Eisfahrten 1860 zur Aufgabe ihres Ortes und zur Umsiedlung nach Kirchhasel  entschlossen hatten. Von den ehemals 23 Gehöften des Saalefischerdorfes stehen heute noch drei am ursprünglichen Ort. Mit dem Bau der Eisenbahn 1870-74 und der beginnenden Industrialisierung im nahen Rudolstadt begann auch in Kirchhasel ein enormer wirtschaftlicher Aufschwung in der Landwirtschaft. Die Bevölkerungsexplosion Rudolstadts bewirkte einen großen Nahrungsmittel-bedarf. Inzwischen hatte man die auf den Gehöften und Grundstücken lastenden Frone, Abgaben und Triftrechte weitgehend abgelöst, die Dreifelderwirtschaft auf eine Fruchtfolgewirtschaft umgestellt und stand besonders in Kirchhasel den fortschrittlichen landwirtschaftlichen Methoden sehr aufgeschlossen gegenüber. Die Aufgeschlossenheit kommt z.B. in der 1876 gegründeten Fortbildungsschule zum Ausdruck. Die Bauern schlossen sich zusammen, um gemeinsam teure Maschinen zu kaufen; 1887 wurden die erste und später noch zwei weitere  Dreschmaschinengenossenschaften gegründet (siehe Bild, oben).  Man setzte Kunstdünger zur Steigerung der Erträge ein und schaffte einen Gemeinde eigenen Zuchtbullen an,  um die Leistung der Kühe schrittweise zu verbessern. Die Ställe wurden nun für den wachsenden Viehbestand zu klein, ebenso die Scheunen für die sich vergrößernden Erntemengen.  Es begann ein allgemeiner Bauboom in Kirchhasel.  Während in anderen Dörfern die Gemeindebrauereien durch die sich vergrößernden städtischen Brauhäuser verdrängt wurden, privatisiert die Kirchhaseler Gemeinde 1870 ihr Brauhaus. Es ist in den Folgejahren durch eine neue Brauerei mit moderner Dampfmaschinentechnik ersetzt worden, die mit den Stadtbrauereien einstweilen mithalten konnte  (Bild 2, unten). Der neue, in die Dorfgemeinschaft aufgenommene Brauereibesitzer  Petzold, setzte sich sehr für den Bau eines  Eisenbahnhaltepunktes ein, der  1877 eröffnet werden konnte. 1902 war Petzold die treibende Kraft für den Bau einer Telefonleitung von Rudolstadt nach Kirchhasel. 1900 baute die Gemeinde eine neue Schule Bild 4/5, unten) und diskutierte ein Wasserleitungsprojekt, das aber erst 1913 verwirklicht wurde. 1910 begann man mit dem Bau der Kanalisation in der Riethtalgasse und 1911 wurde die Gemeinde an das Stromnetz des Saale-Elektrizitätswerkes Saalfeld angeschlossen. 1913 entstand ein weiterer Industriebetrieb, die Kartoffeltrocknungsanlage (Flockenfabrik). Das kulturelle Leben in der Gemeinde bestimmte der Gesangverein „Concordia“ (Bild 3, unten) und der Burschenverein „Kameradschaft“. 1912 konnte sich die Petzoldsche Brauerei dem Konkurrenzdruck nicht mehr erwehren, wurde von der Vereinigten Dampfbrauerei Saalfeld übernommen, stillgelegt, von der Gemeinde zurückgekauft und abgerissen. Eines der verlassenen und dem Verfall preisgegebenen Unterhaseler Häuser wurde 1914 ins Freilichtmuseum "Thüringer Bauernhäuser" nach Rudolstadt umgesetzt. Das wirtschaftliche Hoch der Gemeinde endete mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges, in dem 12 Kirchhaseler ihr Leben ließen und an dessen Ende der Kaiser und die Fürsten abdanken mussten.


Vergleiche Jürgen Weyer: Geschichte der Haseldörfer (2005 / siehe Veröffentlichungen/Bücher),

Jürgen Weyer: Kirchhasel in historischen Fotos (2008 / siehe Veröffentlichungen/Bücher),

Jürgen Weyer: Oberhasel - Dorf und Kirche (2010 / siehe Veröffentlichungen/Bücher),

Jürgen Weyer: Das Oberhaseler Gemeindebackhaus (2012 / siehe Veröffentlichungen/Bücher),

Jürgen Weyer: Karten und Luftbilder erzählen Kirchhaseler Geschichte (2018 / siehe Veröffentlichungen/Bücher),

Jürgen Weyer: Auswanderung um 1850 nach Übersee (2011 / siehe Veröffentlichungen/Einzelbeiträge),

Dr. Th. Wohlfarth: Beschreibung des Pfarrortes Kirchhasel nebst Unterhasel 1858 (siehe Veröffentlichungen/Einzelbeiträge)

Jürgen Weyer: Die Kirchhaseler Pfarrerfamilie Wohlfarth und die Volksaufklärung (2019 / siehe Veröffentlichungen/Bücher)

Jürgen Weyer: 150 Jahre Kirchweihe/Kirmse in Kirchhasel (2014 / siehe Veröffentlichungen/Einzelbeiträge) und

Jürgen Weyer: 100 Jahre Freilichtmuseum "Thüringer Bauernhäuser" Rudolstadt (2016 / siehe Veröffentlichungen/Einzelbeiträge),

Jürgen Weyer: Vor 100 Jahren: Kirchhasel im Ersten Weltkrieg (2018/ siehe Veröffentlichungen/Einzelbeiträge)


Bild 1: Pfarrer/Volksaufklärer Theodor Wohlfarth (1837); Bild 2: Dampfbrauerei Petzold (1870-1913); Bild 3: Gesangverein (1888) Bild 4: Einweihung der neuen Schule (1900); Bild 5: Lehrer Hofmann mit Schulkindern (1901);